Doppelleben (mit G. U. Richter), Kunstverein Bobingen, 2015


Man kann sich der Kunst und ihren Hervorbringungen auf sehr verschiedene Art nähern. Zum Beispiel über den Augenschein. Über die Materialuntersuchung. Über die Historie. Oder über den Begriff. Einen zum Beispiel, der mit dem manifesten Kunstwerk erst einmal gar nichts zu tun hat. In diesem Fall der Begriff Doppelleben. Das ist eine der schönen Kippfiguren, die einem im Munde schon zerfallen, ein doppeltes Leben - das Doppelte eines Lebens - das Leben eines Doppels. So wie das Hundeleben gleichermaßen das Leben eines Hundes ist und das Leben als Hund und das Leben wie ein Hund.

Ein Doppelleben ist mehr als ein doppeltes Leben, lässt Quantität hinter sich und bekommt als Gegensatz zum einfachen Leben die Schattierung und Spannkraft einer Dualität konträrer Eigenschaften: Positiv-Negativ / hell – dunkel / zart - rauh / stark - schwach /
Semantisch ist der Begriff „Doppelleben“ eher zwiespältig besetzt.
Geheime Liebschaften, Kriminalität oder die Drogenabhängigkeit: Wer ein Doppelleben führt, muss ständig fürchten, dass sein Geheimnis aufgedeckt wird. Das schlägt auf Dauer auf die Gesundheit.

oder wie es in einem Gedicht heisst: la double vie n‘est pas un long fleuve tranquille.

Das Doppelleben ist demnach kein ruhiger, langer Fluss, eher ein Wildbach oder ein Delta mit unerforschten Seitenarmen. Vielleicht fällt einem nun auch ein islamistischer Schläfer ein, der in seiner Zweizimmerwohnung tagsüber Plastikblumen bemalt und nachts Plastiksprengstoff mischt. Zum Doppelleben gehört in der Regel ein lichter und ein finsterer Teil. Es ist ja nicht so, dass man sich in zwei gute Hälften aufspalten würde, sozusagen in einen Karl-Heinz Böhm und eine Mutter Theresa. Selbst Supermans zivile Seite ist von Zweifeln, Geheimhaltung, Notlügen und Schuld gezeichnet. Und Batman geht es auch nicht viel besser.

Da ist das Modell Jekyll und Hyde dann doch die normale Variante des Doppellebens. Jeder Mensch kann ein Doppelleben führen. Der bleiche Sachbearbeiter im Baureferat wird zum giftgrünen Monster sobald es dunkelt. Ein Feigling wird zum Löwen sobald er eine Uniform trägt. Ein Alltagsmensch wird zum Künstlermensch wenn er Hasenleim und Alkydharz riecht.

Künstler sind prädisponiert für ein Doppelleben. Nicht dass die beiden in Frage stehenden Spione wären. Am ehesten noch Götz Ulrich Richter, der könnte seiner Herkunft nach, als Sachse aus der ehemaligen DDR, immerhin ein übriggebliebener Spion sein, ein Emigrant im eigenen Land, und keiner weiß, was er da so treibt unterm Dach in Bachern. Elisabeth Bader als Allgäuerin mit Wohnsitz in Augsburg und Arbeitsplatz in Oberbayern scheint da eher unauffällig. Das könnte eher ein Bewegungsmuster sein, dass das Heimatministerium in Franken interessiert. Wo sind die dunklen Seiten der beiden. Vermutlich im finanziellen Bereich. Künstler sind bekanntlich Hungerleider. Aber nicht so diese beiden. Nach profunder akademischer Ausbildung haben beide in den Lehrberuf gefunden, mehr oder weniger teilzeitig, aber immerhin, in den Lehrberuf. Sie schwimmen also praktisch im Geld. Zu vermuten, dass ihre dunkle Seite mit Beschaffungskriminalität, Bandenwesen oder Cybercrime zu tun hat, ist nicht plausibel.

Charakterliche Defizite? Unkontrollierbare Triebe? Nein, auch als nächtlicher Werwolf oder als zeitarbeitende Charybdis sind die beiden nur schwer vorstellbar. Das führt alles nicht sehr weit. Die beiden sind eher unauffällig, könnten Vater und Tochter sein, jedenfalls altersmäßig, Götz Ulrich Richter 1951 geboren, Elisabeth Bader 1978. Aus größerer Entfernung verkörpern sie zwei Künstlergenerationen, und -provenienzen, die sich in vielem fremd sind, in vielem ähnlich. Zum Beispiel in der Bevorzugung von Materialien: Papier, reduzierte Farbigkeit, Leichtigkeit und Schwere, großes Format, klare Formen. Aber wir müssen ja nicht zwanghaft versuchen, die beiden Künstler auf den Begriff zu bringen, bzw sie in ihn zu stecken. Künstler sind eben prinzipiell zum Doppelleben verurteilt.

Nicht nur, weil sie ein Ausstellungsprojekt zusammen realisieren wollen. Das hat künstlerische und pragmatische Gründe. Sondern weil man als Künstler täglich wenigstens temporär ein anderer werden und sein muss, wenn man sich in die Sphäre der Kunstproduktion begibt, mit dem Ziel oder dem ungerichteten Wunsch etwas noch nicht Gedachtes, noch nicht Geformtes, noch nicht Abgebildetes zu finden, etwas Ungesagtes zu formulieren. Künstler eint die Bereitschaft etwas zu tun, in erster Linie nur für sich selbst zu tun, was keiner sonst braucht, keiner will, keiner bestellt hat, was traditionsgemäß von der Gesellschaft so lange akzeptiert wird, solange nichts besseres angeboten wird, Fußball, Sex oder Hinrichtungen.

Den künstlerischen Mehrwert, die Poesie, den Moment des KAIROS gibt es allerdings nicht umsonst. Immer muss da eine innere Grenze überschritten werden. Das sind offensichtlich romantische Gedanken, aber warum nicht. Übrigens werden ja heutzutage selbst in Managerseminaren Flow-erlebnisse empfohlen. Ein schönes Beispiel zum Doppelleben der Begriffe: was unterscheidet das Flow-Erlebnis mit dem Ziel Gewinnoptimierung vom Flow-Erlebnis mit dem Ziel in geistige Sphären zu gelangen?

Aber zum Glück brauchen wir uns um das Innenleben der Künstler nicht weiter kümmern, solange wir nur ihre Werke haben. Da haben wir eine Menge: Wandfüllende Papierbahnen, Kisten, Brocken, Stämme, Köpfe in Serie. Seriell wird heute oft gearbeitet. Die einfache Verfügbarkeit der Materialien, die problemlose Möglichkeit der Verfielfältigung spielen da eine Rolle, aber natürlich auch künstlerische Gründe: Die Spiegelung einer Idee, Wechsel der Standpunkte. Manche Künstler maskieren mit der Serie ihre Unentschiedenheit, die Unfähigkeit zur Auswahl. Dahinter steckt dann eher die simple Verdoppelung, die effiziente Vermehrung des Immergleichen. E. Bader produziert eigentlich keine Serien sondern eher Familien. Elisabeth Bader dekliniert kein Thema durch, sie entwickelt eine Form. Am „Schwarz Wald“ kann man das nachvollziehen.

In Nürnberg, (Ausstellung „raumzeit“ in der Kreis-Galerie, 2013) war es noch eine typische Kleinfamilie, VaterMutterKind, jetzt ist es schon ein ausgewachsener Familienclan, dem der Raum schon fast ein wenig eng wird. Was die Familie zusammenhält ist Form und Material, Papier, Stoff, Draht, Abfall. Jedes Einzelteil dieses Waldes ist ein reichhaltiges ästhetisches Objekt, das dem Auge unendliche Details und Nuancen anbietet. Aber zusammen sind sie nicht nur viele sondern etwas anderes: der Schwarz Wald erobert den Raum und je nach Positionierung, Lichteinfall und Standpunkt entwickelt er aus sich heraus ein reiches Leben. Da wird keine Serie produziert, da wächst eine Familie, verzweigt sich, und bekommt eine Geschichte im Raum. Wenn G. U. Richter seriell arbeitet, dann gewiss nicht nach dem Motto: 1 Motiv in 10 Farben.

Er ist ein Forscher: ein Gesicht, eine Haltung reichen ihm, um einen Reichtum an formalen Möglichkeiten und Lösungen auszuprobieren und zu entwickeln. Und es ist eben nicht so, dass alles nur Vorstudie zum irgendwann endlich gelingenden Einzel- und Meisterwerk wäre; in den Serien entwickelt sich eine Gesamtansicht des Ausgangsmotivs, die gesamte Fülle des Möglichen. Da sind sie sich also einig, Bader und Richter, dass sie nicht seriell produzieren. So funktionieren sie nicht. Sie funktionieren überhaupt nicht gerne.

Lange Zeit hat man die Künstler dazu verpflichtet widerständig zu sein, zu opponieren, Sand im Getriebe zu sein. Diesem massiven moralischen Anspruch muss man sich aber nicht unterwerfen. Ich finde es viel interessanter, wenn Künstler nicht gegen etwas sind, sonder einfach funktionslos; dieses Einfach-So-Sein ist garantiert skandalöser als das pure Opponieren. Wo doch gerade der globalisierte Mensch so gierig darauf ist in allem zu funktionieren, mitmachen zu können, sich einloggen zu können. Ohne Funktion heißt ja nicht: Null. Ein Künstler kann ohnehin nicht spurlos und unsichtbar sein, sondern er muss die Spurlosigkeit, die Unsichtbarkeit, die Nicht-Funktion mit seinen Kunstmitteln zeigen, gestalten.

Der französische Autor Georges Perec hat einmal geschrieben, er habe mehrmals versucht, an eine Wohnung zu denken, in der es ein überflüssiges Zimmer gäbe. „Ein ganz und gar und absichtlich überflüssiges Zimmer. Ein Raum ohne Funktion. Nicht etwa „ohne genaue Funktion“, sondern genau ohne Funktion; nicht plurifunktional (das kann jeder), sondern afunktional.“ Es sei ihm nicht gelungen, gesteht Perec. Aber solche Aufgaben sollte man sich schon stellen können oder wollen, wenn man Künstler ist.

Elisabeth Bader ist da auf ihrem Weg schon ein gutes Stück weit voran gekommen. Sie folgt dem, was Inspiration, Emotion und Material zulassen und anbieten. Sie formt Gegenstände ab, die keine Funktion und keinen Nutzen haben. Abbildhaftigkeit, Gegenständlichkeit gibt es andeutungsweise nur in den Werktiteln. Diese Titel sind eine schöne Beigabe, ein ironisches Signal: So könnte die Maschine heißen, wenn sie eine Maschine wäre, diese Maschine, die keine Maschine ist und deshalb auch keinen Namen haben muss, weil sie in keinem Katalog der Welt zum Verkauf angeboten wird aufgrund ihrer maschinellen Funktion. Aber natürlich funktionieren diese Röhren, Maschinen, Kisten auch ohne die Titel, ganz allein Kraft ihrer Form, ihres Materials, ihrer Haptik. Die Objekte sind bedeutungslos in dem Sinn, dass sie keine Bedeutung notwendig haben. Sie bieten sich als Stauraum und Verabeitungsaggregat für die Bedeutungen, die der Betrachter mitbringt. Dieses Mitgebrachte wird im Frühbeet kompostiert, im Ausspeier dehydriert und zurückgegeben zur freien Verwendung, wenn man die passenden Transportgefäße dabei hat.

Sind diese funktionslosen Gebilde dann eben nur schön? Schön sind sie gewiss, aber eben doppelt schön: weil sie immer auch das andere in sich haben: sie sind Täuschungs,- Andeutungs- und Scheinmaschinen. Elisabeth Bader liebt das Spiel mit der Verrätselung, der Täuschung: Das scheinbar Schwere ist in Wirklichkeit leicht (Felsbrocken), die Baumstämme sind hohl, Schrundiges ist glatt, Röhren scheinen einem Beförderungszweck zu dienen, taugen aber zu nichts Zweckvollem. Immer Andeutung und Ausdeutung, Versprechen und Versprechen, auch so ein Doppelwort: auch wer sich verspricht, kann etwas versprechen, ....

Viele der Stämme des SCHWARZ WALD sind ganz neu, praktisch noch druckfrisch, gerade aus dem Atelier geholt, und wirken doch wie endzeitlich verkohlte Stämme, übriggebliebene Schalen ohne inneres Leben, hohl wie die Hybris der Zivilisation. Was als ökologisches Bekenntnis oder politische Botschaft erscheinen könnte, hat eigentlich existenzielles Format: Wir leben, weil andere tot sind. Das ist wieder beiden gemeinsam: Bader schafft Neues aus dem, was andere wegwerfen. Richter formt aus dem Tod der (des) anderen Reflektionen über das Leben und die conditio humana.

Götz Ulrich Richter ist ein religiöser Atheist oder ein atheistischer Fundamentalchrist, so genau weiß ich das nicht. Jedenfalls beteiligt er sich nicht am Ritual der Amtskirchenfunktionäre und beschäftigt sich dennoch seit vielen Jahren ernsthaft mit religiösen Inhalten, mit sakralen Formen und Räumen, mit christlicher Mythologie und Symbolik, mit dem Kreuz, mit der Physiognomie des Schmerzes; als Lebender schaut er dem Tod ins Gesicht.

Seine Titel sind lapidar: Schrei, Handwerk, Kreuzwege, Dornenkrone, Portrait. Auch unterschiedliche Werke aus verschiedenen Jahren tragen gelegentlich die gleichen Titel. Nicht weil er das Wort nicht wertschätzte, sondern weil es ihm darum geht, den Begriff in allen Inhalten und Nuancen zu erfassen und abzuformen. Und wenn er hundert Gesichter skizziert sind es hundert Skizzen mit dem selben Titel und zum selben Thema. Er bohrt sich in ein Motiv, versucht jede Möglichkeit eines Striches zu erkunden. Das hat altmeisterliche Züge, verglichen mit denen, für die seriell arbeiten schnell arbeiten heisst.

Vor dem großen Werk, das einen durch schiere Dimension und Wucht der Linien überwältigt, steht er und deutet auf ein Farbeckchen und sagt: das ist noch nicht bewältigt. Nicht dass er die Malerei als Kraftakt definieren würde, als Kampf in der Arena, aber leicht fällt es ihm nicht, das Schwere leicht zu nehmen. Er modelliert mit Kraft und Ausdauer auch im Zweidimensionalen; zwischen Linie und Farbfläche sind die Unterschiede fließend. Dass die Bilder von weitem holzschnittartig erscheinen, ist da kein Zufall.

In dieser Ausstellung beschränkt sich Götz Ulrich Richter auf Wandarbeiten, aber im Atelier ist es unübersehbar, dass er sich in letzter Zeit verstärkt mit räumlichen Formen beschäftigt: er ist dabei, trotz starkem Interesse für Holzbildhauerei, vor allem ein Plastiker: er formt Gehende, Schreitende, Liegende, Gekreuzigte, tastend, hinzufügend, zusammensetzend, dann wieder wegschneidend und absägend. Haupsächliches Material ist hierbei: Draht, Papier, Leim. Da sind sich beide wieder ganz nah.

Elisabeth Bader auf der Suche nach der Nicht-Funktion, Götz Ulrich Richter auf der Suche nach dem Wesentlichen, sind beide keine klassischen Künstler, in dem Sinne, dass der Klassiker die gültige Form findet und dann aufhört, sondern romantische Künstler, die immer suchen müssen, denen das gerade Erreichte immer nur das ist, was sogleich wieder verloren und vergangen ist, und insofern Ausgangspunkt für einen neuen Anlauf.

Schön wäre es, hab ich mir gedacht, und um Schöne Dinge geht es bei Kunstausstellungen in der Regel, schön also wäre es, wenn ich nun diese Rede noch einmal von Anfang an halten würde. Nicht als Wiederholung sondern als Verdoppelung. So wie man ja bekanntlich nicht zwei Mal in den selben Fluss steigen kann, so kann man auch nicht zweimal die selbe Rede anhören. Man ist ja schon ein anderer durchs hören des ersten Durchgangs, und wird ein nochmal anderer am Ende des zweiten Durchgangs sein. Das wär doch ein sehr schönes Erlebnis für uns, und weil man, wenn es am schönsten ist, aufhören soll, höre ich auf und nehme alle Widersprüche auf meine Kappe.

Laudatio: Wolfgang Mennel